Die Stadtverordnetenversammlung beschließt:
- Der Bebauungsplan des Gewerbegebiets „Vorm Hellrain“ im Stadtteil Manderbach wird gemäß § 1 Abs. 8 BauGB aufgehoben.
- Der Magistrat wird beauftragt, Möglichkeiten zum Schutz des Grünlands „Vorm Hellrain“ beispielsweise in Form von Natur- oder Artenschutzgebieten zu erarbeiten. Diese sind dem zuständigen Ausschuss für Bauwesen, Umwelt und Nachhaltigkeit zeitnah vorzulegen.
Begründung:
Die Oranienstadt Dillenburg kann sich glücklich schätzen, im Manderbacher Hellrain über ein überaus wertvolles Biotop zu verfügen, das sogar landesweit von Bedeutung ist. In seiner „Bewertung der Umsetzbarkeit Bebauungsplan „Hellrain“ Dillenburg-Manderbach“ führt Dr. René Kirsten dazu aus: „Besonders wertvoll sind die Vorkommen von Braunkehlchen, Wiesenpieper und Wachtelkönig. Alle Arten sind in Hessen extrem selten und erfahren seit Jahren einen dramatischen Bestandseinbruch. […] Die hohen Dichten von Braunkehlchen und Wiesenpieper (jeweils mind. 10 Paare) sowie das Vorkommen des Wachtelkönigs sind außergewöhnlich. In Hessen sind kaum vergleichbare Gebiete zu finden. Der Schutz solcher Bereiche wird als prioritär eingestuft. […] Die Überplanung des Gesamtgebiets führt zu einem vollständigen Verlust der Fortpflanzungsstätten der oben genannten Vogelarten.“ (Hervorhebung und Auslassung durch den Antragssteller)
Auch floristisch bestehen zahlreiche große nach § 30 BNatSchG geschützte Flächen wie beispielsweise mehr als 6000m2 „Intensiv genutzte Feuchtwiesen und -weiden“ oder 1,4ha „Feucht- und Nasswiesenbrachen“. Im botanischen Gutachten der Planungsgemeinschaft Landschaft Ökologie Naturschutz heißt es: „Die hessenweit stark rückläufigen mageren Glatthaferwiesen des LRT 6510 (Magere Flachlandmähwiesen) erreichen im Gebiet immerhin noch einen Flächenumfang von über drei Hektar.“
Dieses Gebiet ist also über allen Maßen schützenswert, wie wir jetzt durch die eingeholten Gutachten noch einmal bestätigt bekommen haben. Im faunistischen Gutachten wird daher auch klar festgehalten: „Aus artenschutzrechtlicher Sicht wird von einer Entwicklung des Gebietes abgeraten.“
Mehr als 1 Millionen Arten sind dem Weltbiodiversitätsrat zufolge weltweit vom Aussterben bedroht, der Erhalt von Arten und Biotopen gehört als 15. zu den 17 Nachhaltigkeitszielen der UN und das Bundesnaturschutzgesetz betont die Bedeutung von „Natur und Landschaft“ ausdrücklich „als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“.
Auch aus rechtlicher Sicht ist der Vorrang des Natur- und Artenschutzes vor dem bestehenden Bebauungsplan klar:
In seiner „Stellungnahme zum Naturschutz in bestehenden Bebauungsplänen“ vom 27. Mai 2020 führt der Hessische Städte- und Gemeindebund e.V. aus: „Dies führt im Ergebnis zu der misslichen Lage, dass zwar ein rechtskräftiger Bebauungsplan vorhanden ist, die hierdurch geschaffenen Baurechte aufgrund entgegenstehender artenschutzrechtlicher Verbote heute nicht mehr ausgenutzt werden können und dürfen. […] Vereinfacht gesprochen steht der Naturschutz bei einem rechtskräftigen Bebauungsplan nicht außen vor, sondern „der Naturschutz“ (die Verbote des besonderen Artenschutzrechts) führt im Ergebnis zu einer – zumindest teilweisen – Funktionslosigkeit des Bebauungsplanes mit der Folge, dass die davon betroffenen Teile oder auch der Bebauungsplan in seiner Gesamtheit keinerlei Rechtswirkung mehr entfaltet.“ (Hervorhebung und Auslassung durch den Antragssteller)
Das Bundesverwaltungsgericht führt in einem Urteil vom 29.04.1977 zur Funktionslosigkeit aus: „Eine bauplanerische Festsetzung tritt wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn und soweit – erstens – die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt. […]Die zur Funktionslosigkeit führende Abweichung zwischen der planerischen Festsetzung und der tatsächlichen Situation muss – zweitens – in ihrer Erkennbarkeit einen Grad erreicht haben, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt.“
Genau dies ist im Hellrain der Fall: Der Bebauungsplan kann nicht verwirklich werden und wird dies auch auf unabsehbare Zeit nicht können. Ein Festhalten am Bebauungsplan wäre vielmehr eine verantwortungslose Wette darauf, dass die geschützten Arten wie das Braunkehlchen aussterben oder das Biotop verlassen würden. Niemand kann sagen, ob und wann dies passieren könnte. Aber wir können uns als Oranienstadt bewusst entscheiden, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun wollen, um dies zu verhindern.
Die Aufhebung des Bebauungsplanes kann uns sogar neue Möglichkeiten der Entwicklung von Gewerbeflächen bieten, anstatt uns einer zu berauben. Das Dezernat 31 – Regionalplanung, Bauleitplanung des Regierungspräsidiums Mittelhessen weist darauf schon seit längerem hin und rät ebenfalls dazu, den Bebauungsplan aufzuheben.
Somit könnten wir nach dem Scheitern der Gewerbegebietsentwicklung im Hellrain und dem Wissen, dass eine Gewerbegebietsentwicklung am Güterbahnhof an den Kosten scheitert. unsere Planungsenergie auf die Erweiterung der Gewerbeflächen im Stadtgebiet verwenden. Damit könnten wir aus einer deutlich besseren Position in Verhandlungen mit der Regionalplanung einsteigen. Die Entwicklung von Gewerbegebieten ist vornehme Aufgabe einer Kommune, um die Einnahmenseite der Bilanz zu verbessern. Unsere Verantwortung liegt insofern darin, nicht an unmöglichen Entwicklungen festzuhalten, sondern neue zu entwickeln.
Dieser Verantwortung sollten wir uns als Oranienstadt ganz bewusst stellen: Schützen wir nicht nur gemeinsam den Manderbacher Hellrain und unsere gesamte Umwelt, sondern planen gemeinsam eine konkrete und innovative Gewerbeentwicklung.
Die weitere Begründung erfolgt mündlich.
Christian Jung
Fraktionsvorsitzender